Zufüttern zum Stillen bei reifen Neugeborenen in der ersten Lebenswoche
Allergievorbeugung bei nichtgestillten Säuglingen Stellungnahme der Ernährungskommissionen der Österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendheilkunde e. V. (ÖGKJ) und der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin e. V. (DGKJ)
Die neue S3 Leitlinie aus 2022 zu „Allergieprävention“ beinhaltet zwei Aspekte/Empfehlungen, die nicht ganz klar formuliert sind und daher gerade unter Eltern - aber leider auch sehr befeuert durch eine teilweise unglückliche - falsche Darstellung auf z.B. Social Media - immer wieder zu großer Verunsicherung führen:
- Alle Säuglinge, die gestillt werden (sollen) – also Zufüttern zum Stillen -sollen zur Vorbeugung von Allergien in den ersten 3 Lebenstagen (z.B. bis Milcheinschuss) möglichst keine normale – also kuhmilchbasierte – Formula Nahrung, sondern Aminosäurengemische oder andere Spezialnahrungen bekommen
- Säuglinge mit erhöhtem Allergierisiko, die nicht/nicht voll gestillt werden, sollen in den ersten 4 LM eine teilweise hydrolysierte Säuglingsanfangsnahrung (Pre-HA) erhalten. ABER: dies gilt nur für Pre-HA Nahrungen mit nachgewiesenem Effekt bzgl. Allergie-Vorbeugung. Ansonsten ist eine HA-Nahrung nicht sinnvoll. Definition erhöhtes Allergierisiko: Eltern u/o Geschwister haben eine Allergie
Zufüttern zum Stillen
Vorgeschlagene Option der Fachgesellschaften:
Zufütterung bis Milcheinschuss mit Lösung aus Aminosäuren oder besonders stark veränderter (extensiv hydrolisiert) spezial Formula Nahrung (Kuhmilchproteine praktisch in die Aminosäuren Bestandteile „zerhackt“. Ist nur für bestehende Kuhmilchallergie zugelassenen, nicht für die „Vorbeugung“)
Kommentar:
Diese Empfehlung war in der S3 Leitlinie NICHT formell konsentiert, sondern als Option gedacht!
Denn:
zum einen ist die Datenlage für diese Empfehlung bei deutschen Kindern (sehr) schwach und bzgl. Vorteil für das Baby und praktischer Umsetzbarkeit zumindest zu diskutieren
Die Erklärung:
Die – nicht konsentierte – Empfehlung in der Leitlinie von 2022 basiert auf EINER JAPANISCHEN STUDIE mit 312
(1.) japanischen und
(2.) Risiko Säuglingen!
Studienfrage:
Effekt einer Aminosäurenformula im Vergleich zur einer Kuhmilchformula in den ersten 3 Lebenstagen auf das Risiko für eine spätere Kuhmilchallergie.
Ergebnis:
die Gabe von Aminosäuren statt kuhmilchbasierter Formula senkt das Risiko für eine spätere Kuhmilchallergie
Aber:
die Studie hat viele Schwächen, deshalb auch kein Konsent (s.o)
- in der Aminosäurengruppe wurde nach 3 Tagen entweder gestillt oder Formula gegeben. In der Formulagruppe hingegen MUSSTE bis zur Beikost (mindesten 5ml, später 40ml) Kuhmilch-Nahrung weitergegeben werden, auch wenn die Mutter voll stillte!
- D. h., die Studie betrachtete nicht nur die Zufütterung in den ersten Lebenstagen, sondern im Kontrollarm eine kontinuierliche Kuhmilchproteingabe ÜBER MONATE!
- Nach 24 Monaten war die immunologische Sensibilisierung gegen Kuhmilchproteine sehr hoch (Kuhmilchgruppe 32%, Aminosäurengruppe 17%). In Deutschland sind die Sensibilisierungsraten egal ob gestillt oder formulaernährt VIEL NIEDRIGER (6-11%). Generell sind Kuhmilchallergien VIEL SELTENER in Europa (1%) als in Japan (15-22%)
- Damit lassen sich japanische Daten schlicht und einfach nicht einfach und mal so eben auf Europa übertragen.
- die japanische Studie hat nur Risiko-Kinder eingeschlossen. Die deutsche Leitlinien-Empfehlung bzw. Option der S3 Leitlinie bezieht sich aber auf ALLE Säuglinge. Allein daher erscheint diese Option auf der Basis dieser Daten nicht gerechtfertigt
- die Ergebnisse und Übertragbarkeit gelten streng genommen NUR für das Präparat, das in der Studie genutzt wurde (genau wie die Kriterien, die auch für die HA Nahrung gilt !!). In Deutschland bekämen die Säuglinge aber andere Präparate. Hier wird mit zweierlei Maß gemessen.
- Und für eine Allergievorbeugung durch Gabe von stark veränderten Spezialnahrungen an alle Säuglinge gibt es aktuell auch keine zuverlässigen Daten.
Doch damit nicht genug
Zufütterung zum Stillen in den ersten Lebenstagen mit stark veränderten Spezialnahrungen oder Aminosäurenlösungen haben praktische, potentiell gesundheitliche und finanzielle Probleme
- Krankenhäuser verwenden v.a. aus hygienischen Gründen überwiegend fertige Flüssignahrungen. Stark veränderte Formulanahrungen und Aminosäurennahrungen sind in Deutschland aktuell nur in Pulverform erhältlich, müssten also „angemischt“ werden. Das ist hygienisch zu bedenken und bedeutet einen höheren Arbeitsaufwand.
- Stark veränderte Formulanahrungen und Aminosäurengemische sind nicht für die Ernährung von GESUNDEN Säuglingen gedacht. Sie enthalten mehr Eiweiß, sowie Maltodextrin oder Glucosesirup statt Laktose
- juristisch sind diese Nahrungen für GESUNDE Säuglinge NICHT ZUGELASSEN, sondern sollen nur an Kinder gefüttert werden, die nicht mit Muttermilch, oder kuhmilchbasierten Säuglingsnahrungen gefüttert werden können
- Potentiell hohe Kosten bei völlig unklarem Effekt
Fazit der Fachgesellschaften
Zufütterung gestillter Säuglinge in den ersten Lebenstagen sowieso NUR, wenn medizinisch notwendig!
Falls eine Säuglingsnahrung verwendet werden soll, kann HA-Nahrung genutzt werden. Die Datenlage dazu ist aber aktuell auch nicht überzeugend.
Stark veränderte Formula Nahrungen und Aminosäurengemische im Sinne einer „Vorbeugung“ sind als Zufütterung für gesunde Säuglinge (auch aus Risikofamilien) NICHT empfohlen.
Nahrungen zur Allergieprävention bei nicht- oder nicht voll gestillten Säuglingen
Die Leitlinien-Empfehlung:
„Wenn nicht oder nicht ausreichend gestillt werden kann, soll eine Säuglingsanfangsnahrung gegeben werden. Für Risikokinder sollte geprüft werden, ob bis zur Einführung von Beikost eine Säuglingsanfangsnahrung mit in Studien zur Allergieprävention nachgewiesener Wirksamkeit verfügbar ist“.
Eine solche Formula-Nahrung ist streng genommen aktuell nicht verfügbar.
Laut einer großen Metaanalyse profitieren Säuglinge mit Allergierisiko bzgl. ihres Risikos, eine Allergie zu entwickeln, laut bisherigen Studien NICHT von speziellen (HA = hypoallergen) Nahrungen.
Diese Metaanalyse hat aber Schwächen:
- verschiedene Studien sehr grob zusammengefasst, obwohl sie so nicht zusammengefasst werden sollten.
- Studien mit teilweise sehr unterschiedlicher wissenschaftlicher Wertigkeit als gleichwertig ausgewertet
- Die Daten der deutschen GINI-Studie (Ergebnis: eine spezifische pre HA Nahrung hat einen signifikant positiven Effekt auf das Risiko für atopisches Ekzem, allergischen Schnupfen und langfristig auf Asthma) wurden (unverständlicherweise) als nicht ausreichend valide bewertet.
Nicht zuletzt aufgrund der Ergebnisse der in Deutschland durchgeführten GINI-Studie erkennen die Ernährungskommissionen das Potenzial eines möglichen allergiepräventiven Effektes (u. a. atopisches Ekzem, allergische Rhinitis, Asthma) durch die Verwendung von Säuglingsnahrungen auf Basis von Proteinhydrolysaten anstelle von kuhmilchbasierten Säuglingsnahrungen bei Säuglingen mit erhöhtem Allergierisiko bei familiärer Allergiebelastung für die Dauer bis zur Einführung von Beikost (auch mit Gabe von Kuhmilchprotein).
Fazit
Übereinstimmend mit der europäischen Leitlinie zur Vorbeugung der Nahrungsmittelallergien ist es aufgrund der unsicheren Datenlage und streng genommen eigentlich nicht notwendig, bei Risikokindern eine (spezifische) Pre-HA-Nahrung zu geben.
ABER:
es gibt zumindest eine Pre-HA Nahrung, die wie gefordert in NUR EINER (aber wissenschaftlich sehr hochwertigen DEUTSCHEN Studie) klar positive Effekte zeigt(e). Nochmal aber: streng genommen kann die genaue Studiennahrung nicht mehr gekauft werden. Denn: die aktuelle des gleichen Herstellers enthält z.B. andere Probiotika und HMOs. Allerdings ist der Herstellungsprozess der Kuhmilchproteinverarbeitung (als vermuteter, aber nicht bewiesener Faktor) genau gleichgeblieben!
So was machen wir nun im richtigen Leben daraus?
Wenn ihr nicht stillen könnt und euer Kind ein Allergierisiko hat, dann macht ihr NICHTS falsch (bzw. Kind könnte bestenfalls profitieren), wenn ihr eine spezifische Pre-HA-Nahrung (die mit studienbasierter Wirkung (!) gebt). Im schlechtesten Fall hat es keinen Effekt, war aber etwas teurer!
Quellen:
Haiden N et al. Stellungnahme der Ernährungskommissionen der Österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendheilkunde e. V. (ÖGKJ) und der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin e. V. (DGKJ)
Monatsschr Kinderheilkd 03/2023 https://doi.org/10.1007/s00112-023-01725-7
