„Boostern“ gegen COVID-19 oder „Corona-Toleranz-Strategie“? Oder Beides?
Welchen Effekt haben bei den aktuellen Virusvariantem Booster-Impfungen überhaupt? Aktuell wird z.B. eine 3. Impfung bei Kindern und eine 4. Impfung bei Erwachsenen diskutiert. Gibt es vielleicht sogar Risiken bei (zu) häufigen Impfungen?
Die meisten Studien zeigen, dass 2 Impfungen Kinder < 12 Jahre und 3 Impfungen Jugendliche und gesunde “junge“ Erwachsene (< (50-) 70) Jahre) vor schweren Krankheitsverläufen und Long-COVID schützen können. Das gilt für die bisherigen, weit verbreiteten Virusvarianten – also auch für Omikron!
Viele Immunologen gehen davon aus, dass erst 3 Impfungen (oder je nach Alter 1-3 Impfungen + Infektion) eine „Grundimmunisierung“ vermitteln. Diese wird im Wesentlichen durch COVID-19-spezifische Immun-Gedächtnis (B- und T)-Zellen vermittelt und hält vermutlich viele Monate, wenn nicht sogar Jahre an.
Für Kinder scheint das noch jüngere Immunsystem bereits nach 2 Impfungen eine effektive Grundimmunität aufzubauen. Im Gegensatz dazu wird mit zunehmendem Alter (> 50-70) und spezifischen Grunderkrankungen (z.b. geschwächtes Immunsystem) die Grundimmunisierung weniger effektiv.
Das Ziel einer Grundimmunisierung mit „Schutz vor schwerem Verlauf und Langzeitkomplikationen“ muss impfstrategisch vom „Infektionsschutz“ abgegrenzt werden. Einen kurzweiligen (ca. 1-6 Monate) und teilweise geringen (10-50%) Infektionsschutz bieten aktuell nur Booster oder (weit weniger) auch natürliche Infektionen. Den Infektionsschutz vermitteln v.a. hohe Konzentrationen von virusspezifischen „neutralisierenden“ Antikörpern auf Schleimhäuten und im Blut. Diese werden aber wieder abgebaut, solange das Immunsystem nicht erneut spezifisch stimuliert wird.
Im Zusammenhang mit COVID-19 Impfstoffen ist es daher unpassend bei leichten oder sogar symptomlosen Infektionen von einem COVID-„Durchbruch“ zu sprechen. Das suggeriert, die Impfung würde gar nicht „wirken“. Natürlich kommt es zu „Durchbrüchen“, aber eben NICHT zu lebensbedrohenden oder langfristig bedeutsamen. Das Ziel, COVID-19 zu verhindern, kann vermutlich gar nicht erreicht werden. Wir werden endemisch mit dem Virus leben müssen und uns auch weiter infizieren, aber eben ohne viele Todesfälle oder Langzeitkranke.
Die 3. Impfung bei Kindern und die 4. Impfung bei Erwachsenen wäre also der erste „Booster“. Dieser verbessert den Effekt der Grundimmunisierung nach aktuellen Daten aber nicht wesentlich (gilt NUR für „junge“, gesunde Menschen z.B. < 50(-70) Jahre!), stellt aber für eine begrenzte Zeit einen gewissen Infektionsschutz dar.
Boosterimpfungen verbessern die Immunabwehr v.a. quantitativ und in geringerem Masse auch qualitativ. Nach einem Booster steigen die Antikörper im Serum für etwa 1-3 (-6) Monate UND wirken auch etwas „breiter“. Damit wird auch ein besserer Schutz gegen neue Varianten möglich. Ein Booster sollte mindestens (3-) 6 Monate nach der vorangegangenen Impfung (oder Infektion) stattfinden. So ist der potentielle Effekt auf die (auch Langzeit-) Immunität am effektivsten. Das eine Booster Impfung zusätzlichen Schutz vor Long COVID bietet, ist nicht bekannt, ist möglich.
Entgegen manchen Meldungen gibt es in publizierten Studien KEINE Zunahme von immunologischen Nebenwirkungen zumindest nicht nach einer 4. Impfung. Die Theorie der „ursprünglich antigenen Sünde – Original Antigenic Sin“ d.h. einer „Sättigung“ des Immunsystems mit theoretisch weniger effektiver Antwort auf kommende Impfungen oder sogar Erreger wird zwar (auf der Basis von LABOR- UND TIER! Daten) diskutiert, entspricht aber (zumindest derzeit) nicht den klinischen Erfahrungen bei Menschen mit dem SARS-CoV2 Virus.
Was ist also die „Bottom line“?
- Die aktuellen Corona Impfstoffe haben Grenzen. Aktuell wird die Übertragung des Erregers nicht (gut) verhindert.
- Andererseits verhindern Impfstoffe durch Bildung von spezifischen und langlebigen Immunzellen schwere Krankheitsverläufe und das auch für längere Zeit. Das bedeutet, es sollte nach aktuellem Kenntnisstand eine Grundimmunisierung ALLER Bevölkerungsgruppen UND Boosterungen von Risikopatienten angestrebt werden.
- Eine NO-COVID-Strategie ist aktuell nicht zielführend für milde oder asymptomatische Infektionen. Sie könnte aktuell nur mit konsequenten Lockdown-Maßnahmen, häufigen Impfungen und sich ständig anpassenden Impfstoffen umgesetzt werden. Eine WENIGER-COVID-Strategie mit passenden Maßnahmen wäre ein guter Mittelweg. Alle Schutzmaßnahmen (z.B. Maske, Abstand, Hygiene) aktuell ausser Kraft zu setzen ist zwar gesellschaftlich in Teilen erwünscht, medizinisch zur Zeit aber nicht sinnvoll! Die Kliniken können davon ein Lied singen.
- Grundimmunisierungen für alle und Booster für Risikogruppen sind und bleiben die schärfste Waffe im Kampf gegen SARS-COV-2 und seine (zukünftigen bzw. wiederaufflammenden) Varianten
- Nicht diskutiert wurde die „Hybrid“-Immunität (Infektion und Impfung). Dabei ist generell die Immunität durch den Erreger deutlich weniger wirksam, als die Immunität durch Impfungen allein oder durch Impfung UND Erreger. Bei Hybrid „zählt“ eine Infektion wie eine Impfung.
Quellen:
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